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WBI-Print 16

Kritische Wertung der Methoden der Gebirgsklassifizierung im Tunnelbau.

Artikelnummer: WBI-Print 16 Kategorie:

Vorwort des Herausgebers

Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit seit den 70er Jahren, zunächst an der RWTH Aachen und später in meinem Ingenieurbüro WBI, hat sich für den Entwurf und die Ausführungsplanung von Tunnelbauwerken die Beschreibung des Untergrundes mit einem realitätsnahen felsmechanischen Modell und darauf aufbauenden Standsicherheitsnachweisen nach der Methode der finiten Elemente (FEM) als besonders geeignet erwiesen. Diese Entwurfsmethode hat sich bei der Anwendung auf Tunnelbauten, die in den verschiedensten Felsarten in Deutschland und im Ausland aufgefahren worden sind, bewährt. Sie ermöglicht es, die Wechselwirkung zwischen dem Gebirge und den Sicherungsmitteln und auch den Bauablauf rechnerisch zu erfassen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Ableitung von felsmechanischen Kennwerten zu, die die mechanischen Eigenschaften des aus dem Gestein und dem Trennflächengefüge bestehenden Felses als ganzes repräsentativ beschreiben.

Neben der Entwurfsmethode, die auf einem felsmechanischen Modell und darauf aufbauenden Standsicherheitsnachweisen basiert, werden seit mehreren Jahrzehnten empirisch begründete Klassifizierungssysteme entwickelt, mit denen versucht wird die Gebirgseigenschaften durch eine einzige Zahl, den Klassifizierungsindex, zu beschreiben. Auf der Grundlage dieser einen Zahl, die anhand mehrerer Einflußgrößen ermittelt wird, werden die Ausbruchfolge und die Sicherungsmaßnahmen für den Bau eines Tunnels festgelegt. Die Auswahl der zu berücksichtigenden Einflußgrößen und deren Gewichtung basiert auf Einschätzungen des Aufstellers des jeweiligen Systems, die aus seinen bei ausgeführten Projekten (Fallbeispiele) gesammelten Erfahrungen resultieren.

Da verschiedene Kombinationen von Einflußgrößen für unterschiedliche Gebirgsarten zur gleichen Indexzahl und damit zur gleichen Einschätzung der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen führen, ist nicht zu erwarten, daß der Klassifizierungsindex einer eindeutigen Beschreibung des Gebirges entspricht. Dies gilt um so mehr, wenn der stochastische Charakter der Einflußgrößen berücksichtigt wird. Aufgrund der statistischen Verteilung der Einflußgrößen wird die Unsicherheit des Klassifizierungsindexes vergrößert und dadurch seine Aussagekraft verringert. Somit kann ein Klassifizierungsindex oder dessen statistische Verteilung auch prinzipiell nicht zu gleichwertigen Aussagen führen wie die Ergebnisse von numerischen Standsicherheitsberechnungen, die auf felsmechanischen Modellen aufbauen und mit denen die Wechselwirkung zwischen dem Gebirge und den Sicherungsmitteln sowie der Bauablauf wirklichkeitsnah berücksichtigt werden.

Die Klassifizierungssysteme sind in einer Zeit entwickelt worden, in der Berechnungsmethoden auf der Grundlage realitätsnaher felsmechanischer Modelle nicht oder nur einigen wenigen Ingenieuren zur Verfügung standen. Um so schwerer verständlich ist es, daß die empirischen Systeme heute, wo die FEM allen Ingenieuren zur Verfügung steht, an Verbreitung und Einfluß noch zugenommen haben. In der Praxis zeigt sich zudem, daß die Anwendung von Klassifizierungssystemen bei der Projektbearbeitung im Tunnelbau häufig zu falschen Ergebnissen führt. Daher ist es begrüßenswert und wertvoll, daß Herr Sommer mit seiner Dissertation einige häufig angewendete Klassifizierungssysteme kritisch beleuchtet und deren Mängel systematisch aufzeigt.

In der Einleitung und der Aufgabenstellung stellt Herr Sommer die Unterschiede zwischen der auf einem felsmechanischen Modell aufbauenden, computergestützten Entwurfsmethode für Tunnelbauwerke und der auf der Grundlage von Gebirgskennziffern entwickelten Klassifizierungssysteme heraus. Dabei arbeitet er auch die Meinungsunterschiede der Fachkollegen hinsichtlich der Anwendbarkeit der Klassifizierungssysteme heraus. Während die einen diese Systeme für alle Tunnel in beliebigen Gebirgsverhältnissen als geeignet ansehen, empfehlen andere diese nur in einer frühen Projektphase und auch nur in Gebirgsverhältnissen, für die eine entsprechend hohe und damit repräsentative Anzahl von Fallbeispielen vorliegt, einzusetzen. Wieder andere lehnen Klassifizierungssysteme wegen der damit verbundenen Risiken grundsätzlich ab.

In der Literaturübersicht werden die grundlegenden Arbeiten zu der im deutschen Sprachraum üblichen Vorgehensweise bei der Planung eines Tunnels auf der Grundlage eines geomechanischen Modells und die auf Klassifizierungssystemen beruhenden Verfahren, die überwiegend im Ausland angewendet werden, kurz vorgestellt. Dabei wird bereits auf einige Besonderheiten und Arbeitsweisen hingewiesen. Weiterhin werden Veröffentlichungen zitiert, in denen über die Erfahrungen bei der Anwendung von Klassifizierungssystemen berichtet wird. Schließlich geht Herr Sommer noch auf die Vortriebsklassifizierung für die Ausschreibung nach der deutschen, der österreichischen und der schweizerischen Norm ein.

Im nächsten Kapitel beschreibt Herr Sommer in kompakter aber präziser und gut verständlicher Form, wie felsmechanische Modelle in die Standsicherheitsnachweise nach der FEM bei der Entwurfsplanung für einen Tunnel eingebracht werden können. Die Ergebnisse von Standsicherheitsberechnungen bilden bei dieser Vorgehensweise
eine verläßliche Grundlage zur Festlegung der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen.

Anschließend werden für drei international häufig angewendete Klassifizierungssysteme (Q, RMR und Rmi) die Grundlagen und Vorgehensweisen zur Ermittlung der Gebirgskennziffern ausführlich beschrieben. Dabei werden die Verknüpfung der verschiedenen Einflußgrößen mit Hilfe empirisch aufgestellter Gleichungen aufgezeigt und die den Sicherungsempfehlungen zugrunde gelegten Fallbeispiele zusammengetragen, soweit letztere zugänglich sind.

Zur Bewertung der Leistungsfähigkeit der untersuchten Klassifizierungssysteme hat Herr Sommer zunächst Anforderungen formuliert, die erfüllt werden müssen, um den sicheren und wirtschaftlichen Entwurf eines Tunnel zu gewährleisten. Daran schließen systematische Untersuchungen an, in denen überprüft wird, ob die einzelnen Systeme den Anforderungen genügen. Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen daß die Klassifizierungssysteme erhebliche Mängel aufweisen und auch untereinander nicht konsistent sind, weil wesentliche Einflußgrößen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden. Auch die Anzahl der den Sicherungsempfehlungen zugrunde liegenden Fallbeispiele ist häufig zu gering um eine zuverlässige Aussage zu ermöglichen. Es läßt sich nachweisen, daß die Klassifizierungsindizes, wie zu erwarten war, das Gebirge nicht eindeutig beschreiben. Die Defizite der Systeme werden im weiteren anhand von Beispielrechnungen nach der FEM belegt. Die Anwendbarkeit von Klassifizierungssystemen ist somit in Frage zu stellen.

Am Beispiel der Untertunnelung des Stuttgarter Flughafens wird die Leistungsfähigkeit des auf der Grundlage eines felsmechanischen Modells und darauf aufbauenden numerischen Berechnungen basierenden Entwurfskonzepts aufgezeigt. Für diesen Tunnel hat Herr Sommer zusätzliche Entwurfsvorgaben erarbeitet, die auf der Grundlage von Klassifizierungssystemen beruhen. Zur Bewertung der Leistungsfähigkeit der Klassifizierungssysteme hat er numerische Berechnungen durchgeführt, in denen die aus den Entwurfsvorgaben resultierenden Sicherungsmittel berücksichtigt werden. Dabei stellt sich heraus, daß keines der untersuchten Klassifizierungssysteme zufriedenstellende Ergebnisse liefert. Zwei dieser Systeme führen zu Sicherungsempfehlungen, bei denen der Tunnel entweder nicht standsicher oder die Sicherung nicht ausreichend bemessen ist. Das dritte System führt zu einer im Vergleich zur Ausführung unwirtschaftlichen Sicherungsempfehlung.

Herr Sommer kommt zu dem Ergebnis, daß eine sichere und wirtschaftliche Entwurfsbearbeitung für Tunnelbauten in klüftigem Fels auf der Grundlage von Klassifizierungssystemen allein nicht möglich ist. Da die Anwendung dieser Systeme zu Fehleinschätzungen des Gebirges und zu unwirtschaftlichen oder auch nicht standsicheren Lösungen führen kann, beinhalten Klassifizierungssysteme große Risiken für die Ausführung von Tunneln. Sie liefern darüber hinaus auch keine Angaben zu Verschiebungen bzw. Senkungen an der Geländeoberfläche, die ebenfalls ein wichtiges Entwurfskriterium sein können.

Die von Herrn Sommer durchgeführten Untersuchungen stellen einen für die Praxis sehr wertvollen Beitrag dar. Die besondere Leistung seiner Arbeit ist darin zu sehen, daß seine Recherchen zu mehr Transparenz der Klassifizierungssysteme führen und deren Unzulänglichkeiten aufdecken. Sie zeigen auch die Überlegenheit der auf wissenschaftlichen Grundlagen und felsmechanischen Modellen beruhenden Entwurfsmethode gegenüber den empirisch entwickelten Klassifizierungssystemen mit den daraus abgeleiteten Sicherungsmaßnahmen. Dies sollte Anlaß sein, die Anwendung von Klassifizierungssystemen beim Entwurf von Tunnelbauwerken in klüftigem Fels in Zukunft kritischer zu bewerten.

Ich hoffe, daß die Lektüre des vorliegenden Heftes gewinnbringend für die Leser sein wird.

Walter Wittke

 

Datum

23.06.2022